„Mehr Dramatik!“: Evangelische Passionsspiele in Sachsen

Im erzgebirgischen Zschorlau führen seit 15 Jahren evangelische Laienschauspieler die Leidensgeschichte Christi auf. In dem sächsischen Ort sind sich die Menschen dadurch auch im Alltag näher gekommen. Die Idee geht auf Kreuzworträtsel zu DDR-Zeiten zurück.

Weg zur Kreuzigung, Proben für die Passionsspiele Zschorlau, Erzgebirge

Weg zur Kreuzigung, Proben für die Passionsspiele Zschorlau, Erzgebirge
Foto: Ruth Bourgeois

„Lasst es euch schmecken, Jungs!“ Rechtsanwalt Dieter Schürer steht auf einem Tisch an der Wand und erteilt den Jüngern, die gerade zum letzten Abendmahl Platz genommen haben, Anweisungen. Derweil breitet Jesus die Arme aus und schreitet auf die Männer zu. Einer von ihnen hebt sich von den anderen ab, es ist ausgerechnet Judas. Statt Kutte oder Gewand wie alle anderen im Saal trägt der Mann ein rotes Karohemd – der Verräter hat sein Kostüm vergessen.

Schauplatz des Geschehens ist das Obergeschoss des CVJM-Hauses in Albernau nahe Aue in Sachsen. Hier haben sich an einem Samstagmittag im Januar weit über hundert Menschen eingefunden. Sie stammen aus verschiedenen evangelischen Gemeinden der Umgebung, sind zuallermeist Männer – und haben auffallend lange Haare. Die vielen Bartträger und wenigen Frauen proben für die Zschorlauer Passionsspiele, die vom 3. bis 12. April aufgeführt werden.

„Zu DDR-Zeiten waren mir Passionsspiele vor allem aus Kreuzworträtseln ein Begriff“, berichtet Initiator Schürer, selbst Mitglied des Gemeindevorstandes der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde Zschorlau, „österreichischer Passionsspielort mit drei Buchstaben – ERL“. Während des ersten Westurlaubs 1990 fuhr der heute 62-Jährige voller Neugier nach Erl, schaute sich ein Jahr später die dortigen Spiele an. „Aus einer Weinlaune heraus und bei Alpenglühen überlegte ich 1997 vor Ort mit Gleichgesinnten: Was bräuchten wir, um so etwas in unserem Zschorlau zu veranstalten?“ Schürer schrieb das Textbuch basierend auf den vier Evangelien sowie dem Roman „Jesus von Nazareth“ von Roman Brandtstätter. Das Szenario verfasste er dann während eines Türkeiurlaubs am Strand.

Jesus schüttelt den Kopf

Methodist Matthias Baumgartl war sofort Feuer und Flamme. „Als ich von der Idee hörte und das Manuskript gelesen hatte, stellte sich mir nicht die Frage, ob ich mitmachen wollte, sondern: ‚Wen willst du spielen?‘ Judas ging nicht, den gab es schon. Jesus also!“ Bei seinen 66 Texteinsätzen half sich Baumgartl zuerst mit einem kleinen Spickzettel auf dem Abendmahltisch weiter. Schon bald aber ging er in seiner Rolle auf: „Man versetzt sich in die Gestalt, in den Menschen hinein“, erklärt der 60-Jährige ernst.

Matthias Groß als Jesus am Kreuz.

Matthias Groß als Jesus am Kreuz.
Foto: Ruth Bourgeois

„Da kommen mir die Tränen, wenn sie einen wie Jesus, der nur Gutes getan hat, zum Bösewicht abstempeln. Dieselben, die gesagt haben: ‚Hosianna!‘, sagen jetzt: ‚Kreuzigt ihn! Kreuzigt ihn!‘ Da ging mir durch den Kopf, wie sich Menschen, denen er nur Gutes getan hat, binnen so kurzer Zeit verwandeln können!“ Baumgartl schüttelt den Kopf. 2010 wechselte er die Seite und spielt seitdem einen Sadduzäer. Am Anfang fiel es Baumgartl naturgemäß schwer, „Kreuzigt ihn! Kreuzigt ihn!“ zu rufen.

Der aktuelle Jesus von Zschorlau heißt Matthias Groß. Im normalen Leben ist der 54-Jährige Bauschlosser. Seine Vorbereitung für die Passionsspiele beginne damit, „nicht mehr zum Frisör zu gehen“, erklärt Groß. Für die Rolle schlüpft der Zschorlauer in einen weiß-beigen Kittel. Nach vier Spielzeiten und vielen Dutzend Proben ist er kaum noch aufgeregt und kann beim Spielen ganz aus sich herausgehen – am meisten in der Tempelszene und bei dem Ausspruch: Lass diesen Kelch an mir vorübergehen! Das sei, als habe man eine Krankheit überwunden, sagt Groß.

Sprechpausen auf Null

„Im Zschorlauer Spiel versuchen wir, das Passionsgeschehen weniger von unserem heutigen christlichen Standpunkt aus zu zeigen, sondern so, wie es damals die jüdische Bevölkerung ‚live‘ erlebt haben dürfte“, erklärt Initiator Schürer. Nach der ersten Spielzeit gab es so viele positive Reaktionen, dass alle Beteiligten für eine Wiederholung plädierten und sich vornahmen, eine Tradition daraus zu machen. So gründeten im Herbst 2000 damals 73 Interessenten aus der Evangelisch-Lutherischen Kirchgemeinde, der Evangelisch-methodistischen Gemeinde sowie der Landeskirchlichen Gemeinschaft der Ortsteile Zschorlau, Albernau und Burkhardtsgrün den „Passionsspielverein Zschorlau“.

Kinderdarsteller während der Proben

Kinderdarsteller während der Proben
Foto: Ruth Bourgeois

Schon zu Ostern 2001 wurde das protestantische Gemeinschaftsschauspiel erneut aufgeführt, dann einigte man sich auf einen Fünf-Jahres-Turnus. 15 Jahre und vier Spielzeiten nach seiner Gründung hat der Verein fast doppelt so viele Mitglieder, kommen bis zu 6.000 Besucher pro Spielzeit zu den Aufführungen in die Sporthalle. Sogar ein Fernsehteam war schon vor Ort und drehte einen Film mit dem Titel „Im Dorf der Bärtigen“. Ein richtiges Wir-Gefühl sei aufgekommen, berichtet Schürer.

„Mehr Dramatik!“, fordert der Regisseur in der nächsten Szene von den Teilnehmern des Hohen Gerichts. Sprechpausen auf Null, ruhig dem Vorgänger ins Wort fallen, so seine Instruktion. Was folgt, ist voller Einsatz: „Er hat Gott gelästert, dieser Sohn eines Zimmermanns!“, brüllt Thomas Seifert als Hohepriester in die Runde. Auch wenn der Ton auf der Bühne manchmal rau ist: Auf den inneren Zusammenhalt der Beteiligten und der teilnehmenden Gemeinden wirkt die Schauspielerei positiv. „Die Spiele schweißen zusammen“, bestätigt Schürer. „Früher sagte man sich nur flüchtig Hallo auf der Straße, nun bleibt man stehen. Aus den Berührungspunkten auf der Bühne entstehen Bindungen auch während der Zeit zwischen den Spielen.“

Weil längst alle im Ort die Passionsspiele kennen, gibt es keine Nachwuchssorgen: Jüngere Menschen aus den Gemeinden wollen mitspielen. Das Aufhören hingegen gehe fast von alleine, erzählt Hohepriester Thomas Seifert: „Aus der Rolle wächst du heraus, wenn deine Haare aufhören, aus dem Kopf zu wachsen!“